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Die Freisetzung von Dämpfen oder Gasen ist die Voraussetzung für die Gefährdung durch Brand- und Inhalationsgefahren.

Das Freisetzungsverhalten - die Gefahr ohne Kennzeichen

Die Freisetzung von Dämpfen oder Gasen schafft erst die Voraussetzung, dass Personen durch die Stoffeigenschaften der Brand- oder Inhalationsgefahren gefährdet werden können.

Für die Gefährdungsbeurteilung von Tätigkeiten mit Gefahrstoffen ist deshalb die Kenntnis des Freisetzungsverhaltens wichtig.

Das Freisetzungsverhalten wird gemäß dem GHS Spaltenmodell zur Substitution anhand der Dampfdrücke p unabhängig von der Stoffmenge folgendermaßen eingeteilt: 

≥ 250 hPa sehr hoch, < 250 hPa hoch, < 50 hPa mittel, < 10 hPa gering und < 2 hPa vernachlässigbar.

Dabei gilt:

  • Der Dampfdruck p ist bei Reinstoffen das Ergebnis aus einer vorgegebenen Stoffeigenschaft und der Temperatur, und bei Gemischen zudem der Konzentration des Stoffes.
  • Bei p ≤ 10 hPa bildet sich über Flüssigkeiten kein entzündbares oder explosionsfähiges Gas-Luftgemisch

Die Exceldatei „Freisetzungsverhalten" beinhaltet auf vier Arbeitsblättern Temperatur-Dampfdrucktupel von mehreren tausend Stoffen. Hiermit wird bei der Ersatzstoff- und der Ersatzsverfahrensprüfung die Berücksichtigung des Freisetzungsverhaltens ermöglicht:

  • Das Arbeitsblatt „Liste“ beinhaltet die Angaben zum Freisetzungsverhalten für eine Auswahl von 1377 Stoffen und Gemischen, denen jeweils ein deutscher Name, eine CAS- und eine ZVG-Nummer zugeordnet sind. 
  • Das Arbeitsblatt „Interpolieren (CRC)“ beinhaltet erstmals 1560 Stoffe, bei denen durch Interpolieren der im CRC Handbook of Chemistry and Physics gelisteten Stoffdaten (Kapitel 6-67 bis 6-93; Seite 1056 bis 1082) das Freisetzungsverhalten bestimmt werden kann.
  • Das Arbeitsblatt „Antoine (Yaws)“ beinhaltet erstmals 5000 Stoffe, bei denen durch die Antoine-Gleichung viele Schwellentemperaturen zum Freisetzungsverhalten bestimmt wurden.
  • Das Arbeitsblatt Henry, beinhaltet 22 wässrige Lösungen unterschiedlicher Stoffe in verschiedener Konzentration, die in der DGUV-Information 213-098 aufgeführt sind. Für diese Lösungen konnte in vielen Fällen anhand der Henry-Konstanten das temperaturabhängige Freisetzungsverhalten durch Ausgasen bestimmt werden.

1) Die Verdunstungszahl: 

Die Verdunstungszahl VD ist das Verhältnis der Verdunstungszeit des flüssigen Stoffes oder des flüssigen Gemisches bezüglich der Verdunstungszeit der Vergleichsflüssigkeit Diethylether bei Raumtemperatur und Normaldruck. Die Verdunstungszeit ist die Zeit, die die Flüssigkeit braucht, um unterhalb des Siedepunktes zu verdunsten.

VD= VDZ (Stoff, Gemisch) / VDZ (Ether) mit VDZ = Verdunstungszeit. 

Die Verdunstungszeit von Ether wurde als VDZ = 1 festgesetzt. 

Die Verdunstungszahlen sind klassifiziert: 

VD <10 mit „leichtflüchtig“,

VD  = 10 bis 35 mit „mittelflüchtig“, 

VD = 35 bis 50 mit "schwer flüchtig“ und

VD = 50 bis ca. 1.100 mit „sehr schwer flüchtig“. 

Zwischen p in hPa und VD besteht ein empirischer Zusammenhang.

VD = 169,83*p -0804 

Bei p < 0,1 hPa gelten organische Stoffe (VOC) als nicht flüchtig. 

Demzufolge korrelieren die Gefahren des Freisetzungsverhalten mit den Verdunstungszahlen VD.(Tabelle)

Aufgrund dieser Korrelation können im Allgemeinen auch die Gefahren der Verdunstung und  Freisetzung anhand der Dampfdrücke diskutiert und analysiert werden.

Zur Festlegung der Arbeitsschutzmaßnahmen werden im einfachen Maßnahmenkonzept Gefahrstoffe (EMKG) und der DGUV-Information 213-080  jeweils eine Kombination aus dem Freisetzungsverhalten und den Arbeitsplatzgrenzwerten (AGW) verwendet. Das EMKG definiert hierfür Gefährlichkeits- und Freisetzungsgruppen und die DGUV-Information 213-080 die dimensionslose Gefährdungszahl

2) Die Gefährlichkeitsgruppe: 

Für Tätigkeiten mit geringen Mengen (g / mL) an Flüssigkeiten mit der Gefährlichkeitsgruppe A oder B reichen unabhängig vom Freisetzungsverhalten die Mindeststandards- Maßnahmenstufe 1 aus. Bei der Gefährlichkeitsgruppe C gilt dies entsprechend bei p < 5 hPa. Für die Gefährlichkeitsgruppe D reichen die Mindeststandards unabhängig vom Freisetzungsverhalten nicht aus und bei der Gefährlichkeitsgruppe E passen keine pauschale Zuordnungen mehr. Hier sind Einzelfallentscheidungen notwendig. 

3) Die Gefährdungszahl:

Zur Berechnung der Gefährdungszahl wird der Quotient aus dem Dampfdruck (hPa) und dem AGW (ppm) gebildet und mit dem Faktor 987 (ppm / hPa) multipliziert. 

Die Tabelle (1) stellt die wesentlichen Zusammenhänge zwischen VOC, dem EMKG, den Gefährdungszahlen und dem Freisetzungsverhalten gemäß dem GHS-Spaltenmodell zur Substitution  dar.

Die Berechnung der Gefährdungszahlen und deren Zuordnung in Kategorien (Tabelle 2) kann zu wesentlich genaueren Einschätzungen als mit dem EMKG und dem GHS-Spaltenmodell allein führen. 

Eine hohe Kategorie (Kat) bewirkt eine hohe Gefahr der Überschreitung des  Luftgrenzwerts.

Die Einhaltung des Luftgrenzwertes ist eben nicht, wie das EMKG suggeriert, nur ein Thema beim Umgang mit den Stoffen der Gefährlichkeitsgruppen C, D und E, sondern kann in Abhängigkeit des Dampfdrucks auch beim Umgang mit Stoffen der anderen Gefährlichkeitsgruppen schwierig sein. Ein Dampfdruck unterhalb von 2 hPa garantiert nicht bei allen Stoffen und Gemischen eine vernachlässigbare Exposition, sondern kann beim offenen Umgang mit Gefahrstoffen mit niedrigen Grenzwerten ( ≤ 10 ppm) in Abhängigkeit zur verwendeten Stoffmenge und des angewendeten Verfahrens durchaus zu einer kritischen Exposition führen.

4) Fallbeispiel: Die Prüfung eines Ersatzverfahrens anhand der Gefährdungszahlen

Die Synthese von Phenylestern: 

Hintergrund

Phenole haben als natürliche Desinfektionsmittel, Pestizide, entzündungshemmende Stoffe und Antioxidationsmittel eine weitreichende Bedeutung. Da sie aber auch ätzende und giftige Eigenschaften haben, ist ihr Einsatzgebiet begrenzt. Durch die Veresterung der phenolischen OH-Gruppe zu Phenylestern können die störenden Eigenschaften beseitigt werden, ohne dass die funktionellen Eigenschaften dabei verloren gehen. In der Literatur sind mehrere einfache biologische Experimente beschrieben, in denen die funktionellen Eigenschaften der Phenylester demonstriert werden können.

Problemstellung

Die Synthese von Phenylestern ist schwieriger als von Alkanolen, da die OH-Gruppen von Phenolen mit freien Carbonsäuren nicht direkt zur Reaktion gebracht werden können. Für die Esterbildung aus Phenolen findet deshalb zumeist ein „Veresterungsgemisch" aus einem entsprechenden Säureanhydrid in Pyridin Verwendung. 

Solche Veresterungsgemische reagieren nach dem Zusatz des Phenols zumeist erst beim Kochen am Rückfluss unter Bildung eines Phenylesters und einem Äquivalent Carbonsäure ab.

Wird, wie in der Tabelle 3 dargestellt, als Phenol p-Kresol und als Säureanhydrid Acetanhydrid verwendet, bildet sich demzufolge der Phenylester p-Kresylacetat und als Carbonsäure Essigsäure (Verfahren I). 

Die Kategorien 6 und 7 der Gefährdungszahlen zeigen, dass schon im Fall von minimalen Undichtigkeiten der Anlage das Verfahren nicht sicher ist. Wird anstelle von Pyridin in geringen Mengen das gut lösliche p-Dimethylaminopyridin oder das unlösliche polymergebundene p-Dimetylaminopyridin als ein jeweils hochwirksamer Katalysator dem Säureanhydrid zugesetzt, startet die Reaktion sofort nach Zugabe des Phenols schon bei Raumtemperatur und läuft dann unter geringer Selbsterwärmung (T = ca. 30 °C) zumeist quantitativ ab (Verfahren II). Die Gefährdungszahlen liegen beim zweiten Verfahren in Kategorie 5 und sind damit immer noch hoch, aber in einem Bereich, der technisch eher beherrscht werden kann. Dieses Ersatzverfahren ist deshalb aus Sicherheitsgründen empfehlenswert.

Hinweis: Für Pyridin gibt es keinen deutschen AGW, der verwendete Luftgrenzwert stammt aus Österreich. 

5) Fallbeispiel: Die Prüfung eines Ersatzstoffs anhand der Gefährdungszahlen

Können die Aufgaben des Essigsäuresters auch ebenso gut oder besser durch ein Propansäureester erfüllt werden, kann die Veresterung des Phenols statt mit Essigsäureanhydrid auch mit Propionsäureanhydrid vorgenommen werden. Wie in Tabelle 4 dargestellt, sind die Gefährdungszahlen bei dieser Variante im mittleren Bereich. Die Einhaltung der AGW kann durch technische Vorsichtsmaßnahmen nun leicht abgesichert werden.

Hinweis: Da für Propansäureanhydrid kein AGW oder MAK festgelegt ist, wurde stattdessen ein selbst berechneter LGW verwendet. Der LGW wurde dafür anhand des GESTIS-DNEL folgendermaßen ermittelt: 

Der abgerundete LGW (ppm) = DNEL (g/m3) x 24.100 (m3/mol) / Molmasse (g/mol) 

Für diese Substitution können als weitere Beispiele die Synthesen von Propionylsalicylsäure statt von Acetylsalicylsäure (Aspirin) und von Dipropionylmorphin statt von Diacetylmorphin (Heroin) dienen.

6) Die Konsequenzen unterschiedlicher Grenzwerte und Gefährdungszahlen am Beispiel von Aceton:

Der Dampfdruck von Aceton liegt bei Raumtemperatur (20 °C) mit 246 hPa ungefähr am Übergang zwischen hohem und sehr hohem Freisetzungsverhalten. 

Die untere Explosionsgrenze (UEG) von Aceton ist der Mindestanteil von Aceton in der Luft, ab dem ein explosionsfähiges Gas-Luftgemisch vorliegt. 

Der Grenzwert der TRGS 900 (AGW) ermöglicht bei 20°C den offenen Umgang mit Aceton nur kurzfristig und mit sehr kleinen Mengen und bei guter Lüftung. Der von der DFG diskutierte Grenzwert entspricht einem Luftgrenzwert aus Japan und der Grenzkonzentration zur Auslösung von Reizungen (Jon H. Rush), ist deutlich niedriger als der AGW und soll die Schädigung von ungeborenen Kindern im Mutterleib durch die Inhalation von Aceton ausschließen. (Voraussetzung für Schwangerschaftgruppe C). Der abgeleitete Grenzwert, der bei seiner Beachtung nach dem Stand der Wissenschaft vor einer expositionsbedingten Beeinträchtigung der menschlichen Gesundheit schützt (DNELkombiniert), liegt wiederum um mehr als eine Dekade niedriger als der japanische AGW. 

In Tabelle 5 sind die resultierenden Gefährdungszahlen dargestellt. Eine kleine Gefährdungszahl (<200) deutet darauf hin, dass eine Überschreitung des entsprechenden Grenzwerts nur durch großflächige Verdunstung des jeweiligen Stoffs (hier des Acetons) bei schlechter Lüftung vorgebeugt werden muss. Hohe Gefährdungszahlen (>1.000) und sehr hohe Gefährdungszahlen (>5.000) führen dazu, dass die Grenzwerte beim offenen Umgang mit Aceton auch kurzfristig, bei kleinen Mengen und guter Lüftung nicht sicher bzw. nicht eingehalten werden können. 

Sollen die Luftgrenzwerte von 200 ppm und darunter sicher eingehalten werden, wird entweder das Aceton durch weniger gefährliche Stoffe ersetzt oder es darf mit Aceton nur im durchgegehend geschlosssen System bzw. unter einem wirksamen Abzug gearbeitet werden.

Fortsetzung: Die Gefährdungszahlen und die Substitutionsprüfung 


© Dr. Horst Klemeyer 2020, ORCID, ResearchgateImpressum